Gedankenschwere Ergriffenheit und respektvolle Stille
Stille. Absolute Stille. Als der letzte Ton von Dmitri Schostakowitschs 15. Streichquartett in der Konzertscheune verklungen war, ließ sich die gedankenschwere Ergriffenheit der Zuhörer beinahe mit Händen greifen. Nach einer gefühlten Ewigkeit atemlosen Innehaltens endlich die befreienden Ovationen und Bravo-Rufe für die Musiker des Quatuor Danel, die dem Gohrischer Publikum einen wahrhaft denkwürdigen Konzertabend bereitet hatten. Selten zuvor war Schostakowitschs pessimistisch-verdüstertes Spätwerk in derart konzentrierter Kontemplation zu hören gewesen wie beim Eröffnungskonzert der 7. Internationalen Schostakowitsch Tage im sächsischen Gohrisch – jenem Ort, in dem der leidgeprüfte Russe einst sein bedeutendes 8. Streichquartett zu Papier brachte. Das belgische Quartett mit den Musikern Marc Danel, Gilles Millet, Vlad Bogdanas und Yovan Markovitch, deren 2005 erschienene, vielgelobte Gesamteinspielung der Schostakowitsch-Quartette erst kürzlich wiederveröffentlicht wurde, interpretierte Schostakowitschs von resignierter Todesschwermut erfülltes es-Moll-Streichquartett mit kompromissloser Strenge: Ja, hier geht es um die „letzten Dinge“ – und das ohne Wenn und Aber. Frappierend, wie sich die Unmittelbarkeit dieser Auseinandersetzung schon in den allerersten Tönen der Elegie vermittelte und wie es das Quatuor Danel verstand, die existenzielle Spannung, die der Komposition innewohnt, bis in den verflirrenden Schluss hinein zu halten – ganz große Quartettkunst!
Die offenbarte sich bereits beim ersten Stück des Abends, bei Beethovens legendärem Streichquartett Nr. 13 B-Dur op. 130 mit „Großer Fuge“ B-Dur op. 133, jener förmlich aus der Zeit gefallenen kompositorischen Großtat, auf die sich der Mythos der Gattung Streichquartett ganz wesentlich gründet. Das Quatuor Danel glättete die teils bizarren Brüche und Brechungen der Komposition nicht, sondern spielte sie genussvoll aus. Und stellte damit deren Modernität heraus, die bereits auf die Musik des 20. Jahrhunderts verweist.
Zu dieser hat Hanns Eisler, der noch immer als DDR-Vorzeigekomponist Abgetane, einen keineswegs unbedeutenden Beitrag geleistet. Erstaunlich, wie gut sich dessen 1938 komponiertes Streichquartett inmitten der kompositorischen Schwergewichte von Beethoven und Schostakowitsch zu behaupten wusste. Wobei die ästhetische Nähe zu seinem Lehrer nicht nur in der Verwendung der Zwölftontechnik evident wurde – bisweilen hatte man das Gefühl, als wehten Versatzstücke aus Schönbergs Streichquartetten vorüber. Was der großen kompositorischen Qualität und schöpferischen Eigenständigkeit von Eislers singulär gebliebenen Streichquartett jedoch keineswegs Abbruch tun soll. Das Publikum jedenfalls nahm die Neu- oder Wiederentdeckung dieses bedeutenden Komponisten mit dankbarem Applaus auf.
Dass die Schostakowitsch Tage Gohrisch von den Unbilden eines eher durchwachsenen mitteleuropäischen Sommers nicht gänzlich gefeit sind, zeigte sich am zweiten Festivaltag. Zwar fiel das mit viel Liebe und großem organisatorischen Aufwand vorbereitete Wanderkonzert nicht vollends „ins Wasser“, doch mussten sich die zahlreichen Teilnehmer am Ende doch sputen, um angesichts eines unaufhaltsam heranrückenden kräftigen Gewitters nicht gänzlich durchnässt wieder ins Trockene zu kommen. Gleichwohl: Die vom Vocal Concert Dresden unter der Leitung von Peter Kopp an insgesamt vier Stationen rund um den Kurort Gohrisch dargebotenen „Zehn russischen Volkslieder“ von Schostakowitsch, sowie die „Neuen deutschen Volkslieder“ von Eisler und eine Auswahl aus dessen im amerikanischen Exil komponierten „Woodbury-Liederbüchlein“, waren weit mehr als nur „leichtgewichtige“ Ergänzungen des Festivalprogramms. Zudem ermöglichte das Wanderkonzert so manchen Festivalbesucher eine erste intensivere Begegnung mit der so zauberhaften Landschaft der Sächsischen Schweiz.
Auch das erstmals angebotene Nachtkonzert litt ein wenig unter der wechselhaften Witterung. Zwar konnte der zum ersten Mal in Gohrisch musizierende Peter Rösel noch mit Beethovens Klaviersonate cis-Moll op. 27/2, der sogenannten Mondscheinsonate, reüssieren, doch mischte sich bereits in die ersten Klänge der anschließend gespielten Sonate für Viola und Klavier C-Dur op. 147 von Schostakowitsch bedrohliches Donnergrollen. Als dann Starkregen auf das Dach der Konzertscheune niederprasselte, war an ein Weitermusizieren nicht mehr zu denken. Das Konzert wurde abgebrochen und Peter Rösel (Klavier) und Thomas Selditz (Viola) zelebrierten Schostakowitschs elegischen Schwanengesang dann außerplanmäßig am Ende des sonntäglichen Abschlusskonzertes – passenderweise im Anschluss an Hanns Eislers Divertimento für Bläserquintett op. 4 mit dem Untertitel „Vierzehn Arten den Regen zu beschreiben“.
Vor zwei Jahren feierte die Pianistin Anna Vinnitskaya mit den beiden Klavierkonzerten von Schostakowitsch ein vielumjubeltes Debüt in Gohrisch, diesmal entzückte sie ihr Publikum mit Schostakowitschs „Puppentänzen“, sieben gefälligen Miniaturen, die der Komponist in den 50er Jahren aus seinen Ballettmusiken zusammenstellte und für Klavier solo transkribierte. Die beiden abschließenden Stücke – „Leierkasten“ und „Tanz“ – spielte sie mit einer derartig leichtfingrigen Geschwindigkeit, dass dem begeisterten Publikum schier die Luft wegblieb. Beethovens tiefgründige Sonate für Klavier und Violine Nr. 10 G-Dur op. 96 bot die in Hamburg lebende russische Pianistin in nachgerade vollendetem Zusammenspiel mit Matthias Wollong dar. Auch der Violinist und erste Konzertmeister der Sächsischen Staatskapelle Dresden ist in Gohrisch ein alter Bekannter, genauso wie der Cellist Isang Enders, der zusammen mit Wollong im anschließenden Duo für Violine und Violoncello op. 7/1 von Hanns Eisler brillierte. Der Höhepunkt des Kammerabends am Samstag war jedoch zweifelsohne die Interpretation von Schostakowitschs Klaviertrio Nr. 2 e-Moll op. 67. Bewundernswert, welche Spielkultur und welch hohes musikalische Verständnis die drei Solisten bei ihrer Interpretation der tieftragischer Kriegs- und Erinnerungskomposition offenbarten. Und auch hier war es wieder zu vernehmen, dieses langandauernde, atemlose Stille-Sein vor dem einsetzenden rauschenden Applaus, dieses stimmungsvolle Innehalten mit der das Gohrischer Publikum nicht nur außergewöhnliches Musikverständnis unter Beweis stellt, sondern auch seinen Respekt vor der Tiefe der Komposition und der bewegenden Qualität der Interpretation kundtut. Chapeau!
Als wahrer Glücksgriff der Organisatoren erwies sich schließlich die Verpflichtung von Uwe Tellkamp, der kurzfristig für den erkrankten Dirigenten Michail Jurowski ins Programm genommen wurde. Der vielfach geehrte und hochdekorierte Dresdner Autor hatte zur Martinee am Sonntag seine bislang unveröffentlichte Erzählung „Freundeskreis Musik“ mit nach Gohrisch gebracht – eine ebenso intelligente wie vergnügliche Zeitreise in die Künstler-, Musiker- und Feuilletonistenszene der ostdeutschen Vorwendezeit, die sich auch jenen Zuhörern unmittelbar erschloss, die mit den Interna des Dresdner Kulturbetriebs nicht unbedingt vertraut sind. Und in ihnen den Wunsch wach werden ließ, Uwe Tellkamps meisterliche Novelle schon bald in gedruckter Form in Händen halten und weiterverschenken zu dürfen. Umrahmt wurde die Lesung mit Musik aus der Feder jener drei Komponisten, die im Zentrum der diesjährigen Schostakowitsch Tage Gohrisch standen: Rozália Szabó, Céline Moinet und Astrid von Brück brachten Hanns Eislers Sonatensatz für Flöte, Oboe und Harfe op. 49 zu Gehör und das Dresdner Streichquartett den ersten Satz aus Ludwig van Beethovens Streichquartett Nr. 6 B-Dur op. 18/6, sowie Dmitri Schostakowitschs Streichquartett Nr. 3 F-Dur op. 73. Dieses verklingt – wie so viele Kompositionen des großen Russen – „morendo“. Und auch hier war sie wieder, diese respektvolle, langanhaltende Stille vor dem aufbrausenden Schlussapplaus…
Karlheinz Schiedel
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