4. Schostakowitsch, der Funktionär
Im Ausland wurde Schostakowitsch seit dem Siegeszug seiner 7. Sinfonie als Oberhaupt der sowjetischen Komponistenschule betrachtet. 1960 trat er in die Partei ein und komponierte für deren XXII. Parteitag die Lenin gewidmete Zwölfte Sinfonie. Er wurde Erster Sekretär des Komponistenverbandes der Russischen Sowjetrepublik und Mitglied ihres Obersten Sowjet. Der deutsche Moskau-Korrespondent Gerd Ruge beschrieb ihn als hypernervösen Funktionär: „Während er antwortet, blickt er überall hin, fährt er sich mit ständig zitternden Händen durch die Haare, nestelt er am Schnürsenkel eines Schuhes, reibt er sich die Brille. Er spricht schnell und doch wieder stockend – so als kontrolliere er sich immer selber, um ja keinen falschen Satz zu sagen.“
Schostakowitsch arbeitete in seiner Musik mit doppeltem Boden. Darüber hinaus kompensierte er die Werke, mit denen es ihm ernst war, durch Propagandaarbeiten. Das 3. Streichquartett mit dem „Poem vom Vaterland“. Für die Schublade schrieb er das Violinkonzert und den Zyklus jüdischer Lieder, das „Lied von den Wäldern“ mit seinem Preislied auf Stalin für Konzertsäle und Fabriken. Die – im sozialistischen Sinne nutzlosen – 24 Präludien und Fugen kompensierte er mit den Zehn revolutionären Chören. Dazu ständig Musik zu Propagandafilmen, einmal aber auch Bühnenmusik zu Shakespeares „King Lear“. Und dazwischen setzte er sich noch für Kollegen und Freunde ein, die in die Mühlen der GPU geraten waren. Das war ein Balanceakt, bei dem man nervös werden musste.
Den Tod Stalins feierte Schostakowitsch 1953 mit seiner großen Zehnten Sinfonie. Sie endet mit dem Triumph des „D. Sch.“-Motivs, Schostakowitschs Initialen in deutscher Notenschrift: d-es-c-h. Das hieß: „Ich, ich, ich, ich!“ Ich habe Stalin überlebt! Ich bin kein Rädchen und Schräubchen im sozialistischen Getriebe, ich bin ein Mensch. Nur fiel ihm danach leider nichts mehr ein. Er fühlte sich bereits wie Rossini, der plötzlich aufgehört hatte zu komponieren.
Vier Jahre später folgte das Cellokonzert, das exakt wie eine Illustration von Gerd Ruges Beschreibung wirkt. Jetzt ist das „D. Sch.“-Motiv entstellt zu einem geschäftigen Dahinhudeln. Und wenn der verballhornte D. Sch. am Ende des Konzerts als „Krönung“ erscheint, dann ist das die Krönung des eilfertigen Funktionärs. Aber für Mstislaw Rostropowitsch wurde es ein munteres Virtuosenstück, mit dem er rund um den Globus viel Erfolg hatte.
Und dann kam das Jahr 1960, in dem sie ihn zwangen, in die Partei einzutreten. Darauf reagierte er mit Selbstmordgedanken. Schließlich fand er eine andere Lösung: Statt in Dresden die Musik zu dem Propagandafilm „Fünf Tage – fünf Nächte“ über die Rettung der Dresdner Gemäldegalerie durch die Rote Armee zu schreiben, komponierte er in der Sächsischen Schweiz ein „niemandem nützendes Streichquartett“, sein Achtes. Zur Tarnung widmete er es „Den Opfern von Faschismus und Krieg“. In Wirklichkeit ist es eine Betrachtung des eigenen Weges mit vielen Zitaten aus seinen Werken. Aus großer Ferne klingt der Beginn seiner 1. Sinfonie herein, der erste Triumph des 19-Jährigen. Und immer wieder „D. Sch.“, aber auch das schmerzhafte jüdische Thema aus dem 2. Klaviertrio. Der verballhornte D. Sch. aus dem Cellokonzert ist ebenfalls dabei und wird mit Ekel abgestreift: da zitiert er das Lied „Gequält von schwerer Sklavenfron“.
Hinterher schrieb er an seinen Freund Isaak Glikman: „Zuhause angekommen, habe ich es zweimal versucht zu spielen, und wieder kamen mir die Tränen. Aber diesmal nicht mehr nur wegen seiner Pseudotragik, sondern auch wegen meines Erstaunens über die wunderbare Geschlossenheit seiner Form.“ Vor allem als Kammersinfonie in der Bearbeitung von Rudolf Barschai wurde es einer seiner Welterfolge.
Bernd Feuchtner