19. Symposium - Rückblick
19. Musikwissenschaftliches Symposium: Eine rundum gelungene Veranstaltung
Kaum ein Komponist des 20. Jahrhunderts steht derart beständig im Zentrum des Interesses einer kunstaffinen Öffentlichkeit wie Dmitri Schostakowitsch. Dies wurde erneut beim mittlerweile 19. Musikwissenschaftlichen Symposium der Deutschen Schostakowitsch Gesellschaft deutlich, das Mitte September 2019 in den Räumen der Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft in Berlin stattfand und das sich dem Thema „Schostakowitsch-Rezeption im 21. Jahrhundert“ widmete. Insgesamt 18 Referentinnen und Referenten – Musikwissenschaftler und Schostakowitsch-Experten – aus dem In- und Ausland beleuchteten die Thematik nicht nur aus den verschiedensten Blickwinkeln, sondern hatten mit der Qualität ihrer Beiträge auch wesentlichen Anteil am Ertrag einer Veranstaltung, die der langjährige Symposiumsleiter Gottfried Eberle abschließend als „absoluten Höhepunkt in der Reihe der bisherigen Symposien“ bezeichnete. Ein Kompliment, das nicht nur den Vortragenden und seinem Nachfolger als Cheforganisator der Symposien Prof. Dr. Ronald Freytag galt, sondern dem gesamten, im vergangenen Jahr neugebildeten Vorstand der Deutschen Schostakowitsch Gesellschaft, der die erste Nagelprobe seiner Arbeit erfolgreich bestanden hat.
Wie sehr die Rezeption des Werkes von Dmitri Schostakowitsch auch 30 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Fall des Eisernen Vorhangs noch immer von außermusikalischen Themensetzungen, ideologischen Gegensätzen und persönlichen Animositäten überlagert wird, zeigte sich nicht nur in einem vom Präsidenten der Deutschen Schostakowitsch Gesellschaft Bernd Feuchtner vorgetragenen Beitrag des US-amerikanischen Musikwissenschaftlers Richard Taruskin „Was Shostakovich a Martyr? Or Is That Just Fiction – Julian Barnes’s Novel The Noise of Time”, sondern auch in Bernd Feuchtners eigenem Symposiumsbeitrag „The Shostakovich Wars im 21. Jahrhundert. Der Sonderweg der Schostakowitsch-Diskussion in den USA“. Dieser Krieg sei, so Feuchtner, eine Bestie, die sich selbst ernähre. Ausgangspunkt der mittlerweile seit vier Jahrzehnten tobenden Kontroverse ist die Frage, ob und inwieweit die von Solomon Wolkow aufgezeichnete und 1979 herausgegebene Schostakowitsch-Autobiografie „Zeugenaussage“ authentisch ist oder nicht. Während für das Wolkow-Lager Schostakowitschs innere Ablehnung des Sowjet-Regimes auf der Hand liegt, hält das Taruskin-Lager Schostakowitsch für einen erdichteten Helden, ja für einen „Schlappschwanz“ (Laurel E. Fay). Seine Oper „Lady Macbeth von Mzensk“ sei zudem ein inhumanes Kunstwerk, das die vielfältigen Gefahren der Musik greifbar mache. Schostakowitsch steht, so Taruskin, exemplarisch für die Entmenschlichung in der Sowjetmusik. Ein Standpunkt, der nicht nur zutiefst unfair, sondern wohl ebenso falsch wie vorgestrig ist. Feuchtner: Die moderne Musikpsychologie ist hier mit ihren Wirkungsanalysen viel weiter.
Das Auf und Ab in der (westlichen) Rezeptionsgeschichte der Musik Dmitri Schostakowitschs beschrieb auch der polnische Komponist, Schostakowitsch-Freund und langjährige Präsident der Schostakowitsch-Gesellschaft Krzysztof Meyer in seinem Eröffnungsvortrag. Galt Schostakowitsch noch in den 30er- und 40er-Jahren weltweit als Jahrhundertphänomen, als eine Art Beethoven des 20. Jahrhunderts, wurde er nach dem Krieg im Westen fast zu einer Persona non grata. Dies änderte sich erst nach dem Erscheinen von Wolkows „Zeugenaussage“-Buch, das nicht zuletzt das Interesse am Menschen Schostakowitsch geweckt habe. Meyer beklagte dabei allerdings die Reduktion auf die politische Dimension, was dem vielleicht wichtigsten Komponisten des 20. Jahrhunderts einfach nicht gerecht werde.
Das Spannungsfeld zwischen Kunst und Politik (Meyer: „Die Chance ist gering, dass Schostakowitsch da noch mal wegkommt“) klang auch in vielen anderen Beiträgen an, deren Hauptaugenmerk sich dann aber doch stärker auf die Musik Schostakowitschs fokussierte. So berichtete Elisabeth von Leliwa über die vielfältige Inspiration, die Schostakowitschs Instrumentalmusik für das zeitgenössische Tanztheater bereithält, setzte sich Alexander Gurdon mit Schostakowitschs Dirigenten und der Interpretation seiner Sinfonien als musikalische Erinnerungskultur auseinander (wobei er den Schwerpunkt auf die zehnte Sinfonie legte) und Albrecht Riethmüller mit der Filmmusik Schostakowitschs – einem höchst bedeutenden Teil seines Wirkens. Das überaus zeit- und arbeitsaufwändige Schaffen von Film- und Theatermusik war ebenfalls eines der Themen in Olga Dombrowskajas Beitrag. Leider konnte die bedeutende russische Schostakowitsch-Expertin aus Termingründen nicht persönlich nach Berlin kommen; ihr hoch informativer Vortrag, in dem sie sich auch intensiv mit Schostakowitschs Zitier-Technik auseinandersetzte, wurde daher von Symposiumsleiter Ronald Freytag verlesen.
Julian Barnes' Schostakowitsch-Roman „Lärm der Zeit“ bekam in dem sehr persönlich gehaltenen Beitrag von Gerhard Müller weitaus bessere Noten als bei Taruskin: Habe er beim ersten Lesen noch manches für falsch und konstruiert gehalten, fand er beim zweiten Mal alles richtig, exakt und real und noch dazu sehr gut geschrieben. Schostakowitsch sei bei Barnes kein selbstbestimmter Mensch; man frage sich bisweilen, wie ein solcher Mensch derartige Meisterwerke schaffen konnte. War es am Ende das Erleben der Finsternis, das Schostakowitsch hierzu befähigte? Elisabeth Wilson bescheinigte Barnes jedenfalls große Ernsthaftigkeit und historische Akkuratesse; der große britische Romancier hatte sich bei der Grand Dame der angelsächsischen Schostakowitsch-Rezeption gründlich informiert. Wilson selbst beschäftigte sich in ihrem Vortrag mit Schostakowitschs Cellosonate, der man nach der westlichen Uraufführung eine rückwärtsgewandte Salonhaftigkeit anlastete, die jedoch gleichwohl viel von Schostakowitschs ureigensten Kompositionsstil offenbare. Die ungebrochene Modernität Schostakowitschs und die Aktualität seiner Werke war Thema von Uta Swora, Manuel Gervink untersuchte in seinem Beitrag die Darstellung der Person Schostakowitschs und die Konnotationen zu seiner Musik in Tony Palmers Film „Testimony“, Adelina Yefimenko setzte sich mit einigen exemplarischen Aufführungen der „Lady Macbeth von Mzensk“ im 21. Jahrhundert auseinander, Karolin Tscharntke mit der ebenso spannenden wie aufschlussreichen Rezeptionsgeschichte von Schostakowitschs 12. Sinfonie (die in letzter Zeit wieder häufiger in den Konzertsälen zu hören ist) und Jakob Knaus berichtete von versteckten Botschaften in den Sinfonien 2, 4, 5, 7 und 9. Die diebische Freude, die der jugendliche Schostakowitsch dabei hatte, als er im avantgardistischen Ton- und Klanggewebe seiner zweiten Sinfonie (einem Auftragswerk zum zehnten Jahrestag der Oktoberrevolution) ausgerechnet ein Zitat aus dem Geburtstagsständchen des Klassenfeindes „Happy Birthday to You“ hineinschmuggelte, war fast schon greifbar. Wer indes Erhellendes über das gewichtige Spätwerk Schostakowitschs erwartet hatte, dürfte von Simon Haasis Vortrag ein wenig enttäuscht gewesen sein. Der Schostakowitsch-Bezug in Haasis‘ zwar hochphilosophischem und brillant getextetem Beitrag wirkte letztlich doch ein wenig bemüht.
Überaus erhellende Beiträge von Yaroslav Timofeev und Olga Manulkina (beide Russland), sowie Alexander Laskowski (Polen) beendeten den Vortragsreigen am Samstagnachmittag und gaben dabei wichtige und teilweise überraschende Einblicke in die Entwicklung der Schostakowitsch-Rezeption in Russland und Osteuropa nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Olga Manulkina präsentierte hierzu einen Fragenkatalog, den sie insgesamt 42 Absolventen dreier russischer Musikhochschulen vorgelegt hatte. Ergebnis: Das Werk Schostakowitschs ist in den Hintergrund gerückt. Eine Beobachtung, die auch Yaroslav Timofeev bestätigt. Schostakowitsch sei einst für viele junge russische Komponisten ein großes Problem gewesen. Sie versuchten lange Zeit, ihn zu imitieren, sahen in ihm ein Idol. Die neue Komponistengeneration habe sich mittlerweile jedoch von ihm emanzipiert. Schostakowitsch gehöre nun zu den Klassikern. Gleichwohl: Die russische Gesellschaft zerfalle in zwei Parteien und beide Seiten versuchten, Schostakowitsch für sich zu reklamieren. Ein Befund, den Alexander Laskowski teilte. Zu erleben sei gegenwärtig der Versuch eines Wiederaufbaus des alten Russlands bei gleichzeitiger Mythologisierung der UdSSR-Vergangenheit. Letzteres habe sich zum Beispiel auch bei der jüngsten Inszenierung des Schostakowitsch-Balletts „Der helle Bach“ am Bolschoi-Theater gezeigt.
Zum großen Erfolg des 19. Musikwissenschaftlichen Symposiums dürfte gewiss auch eine öffentlichkeitswirksame Neuerung beigetragen haben: Seit langem wurde im Rahmen der Tagung mal wieder ein öffentliches Konzert veranstaltet und zwar in bester Zusammenarbeit mit der in Berlin ansässigen Mendelssohn Gesellschaft. Bei dem ausgesprochen gut besuchten Klavierabend in der Mendelssohn-Remise beim Gendarmenmarkt spielte der bekannte Pianist Vladimir Stoupel nicht nur Schostakowitschs zweite Klaviersonate und die dritte Klaviersonate des von den Nazis verfolgten deutsch-österreichischen Komponisten Karol Rathaus, sondern brachte mit einem von Krzysztof Meyer vervollständigten Präludium und Fuge ein erst kürzlich wiederentdecktes Werk Dmitri Schostakowitschs aus den frühen 30er-Jahren zur Welturaufführung. Zudem las der Schauspieler Patrick Güldenberg erstmals öffentlich eine Auswahl der von Gottfried Eberle ins Deutsche übertragenen Briefe Dmitri Schostakowitschs an seinen Freund Iwan Sollertinski. Begeisterter Beifall für alle Beteiligten. Eine rundum gelungene Veranstaltung.
Karlheinz Schiedel
- Die deutschsprachige Erstausgabe der Briefe Dmitri Schostakowitschs an Iwan Sollertinski wird derzeit vorbereitet. Sobald das Buch erschienen ist, werden wir darüber berichten.
- Das 20. Musikwissenschaftliche Symposium der Deutschen Schostakowitsch Gesellschaft findet voraussichtlich im Herbst 2021 statt. Das Thema ist: Musiksprache und Kompositionstechnik von Dmitri Schostakowitsch (vorl. Arbeitstitel).
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