21. Musikwissenschaftliches Symposium in Dortmund
Von bedrückender Aktualität
Von Karlheinz Schiedel
Er sei glücklich, hier sein zu dürfen, und dass der Krieg nicht alle akademischen Verbindungen zerschnitten hat. Die Worte des jungen russischen Musikwissenschaftlers Yaroslav Timofeev waren mehr als eine der üblichen Höflichkeitsadressen an die Teilnehmer:innen des 21. Musikwissenschaftlichen Symposiums der Deutschen Schostakowitsch Gesellschaft, das vom 22. bis 24. September 2023 im Kammermusiksaal des Orchesterzentrums|NRW in Dortmund stattfand. Warfen sie doch ein bezeichnendes Schlaglicht auf die Probleme und Schwierigkeiten, in denen der kulturelle und wissenschaftliche Austausch zwischen Ost und West im Allgemeinen, aber eben auch die Schostakowitsch-Rezeption im Besonderen durch das Drama des völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine steckt.
Andere hatten weniger Glück. Vladimir Tarnopolski zum Beispiel. Der mittlerweile aus seiner russischen Heimat nach München emigrierte Komponist bemüht sich bei den Behörden bisher vergeblich um eine Aufenthaltserlaubnis. Nicht einmal die durch unseren Präsidenten informierte Kultur-Staatsministerin Claudia Roth konnte helfen. Ein trauriges Beispiel für die verfehlte deutsche Migrationspolitik, wie Bernd Feuchtner bedauernd feststellte. Auch andere russische Referent:innen, die in der Vergangenheit regelmäßig die Schostakowitsch-Symposien mit ihren fachlich versierten Vorträgen bereichert hatten, wurden in Dortmund schmerzlich vermisst. Geht hier am Ende etwas in die Brüche, an das sich viele von uns nach der vermeintlichen Überwindung des Ost-West-Konfliktes mit liebgewonnener Selbstverständlichkeit gewöhnt hatten? Jedenfalls konnte vor zwei Jahren kaum jemand ahnen, was für eine bedrückende Aktualität das damals gewählte Thema „Schostakowitsch in der europäischen Kulturgeschichte“ haben würde.
Niemand habe damit gerechnet, dass einmal die Frage im Raum stehen würde, ob man die Werke Dmitri Schostakowitschs hierzulande überhaupt noch aufführen sollte. Das gab es noch nie, nicht einmal in der Zeit des Kalten Krieges, stellte Bernd Feuchtner am Beginn seines etwas provokant „Der Westen als Feindbild“ betitelten Vortrags fest. In seinem gut halbstündigen Parforceritt durch die russische (Kultur-)Geschichte wurde deutlich, wie sehr russische Identitätssuche permanent zwischen Ost und West hin und her pendelt. Angestoßen entweder durch äußere Einflüsse wie etwa während der 250-jährigen Epoche der „Pax Mongolica“, in der sich die Kontaktmöglichkeiten in den europäischen Westen marginalisierten, oder durch innere Entwicklungen, wie die durch Zar Peter (dem Großen) und seine Nachfolger:innen vorangetriebene Modernisierung und Westorientierung Russlands. Auch in der Kultur spiegelt sich dieses Hin und Her wider: So wurde es im 19. Jahrhundert in Adels- und Intelligenzia-Kreisen zunehmend chic, sich auf Französisch zu unterhalten, während sich beinahe zeitgleich eine Rückbesinnung auf ein volkstümlich-originäres, bisweilen gar mystisch überhöhtes Russentum Bahn brach. Unter den russischen Komponisten kam es zu erbitterten Konflikten zwischen dem „Mächtigen Häuflein“ (Balakirew, Borodin, Cui, Mussorgski, Rimski-Korsakow) und den „Westlern“ (Tschaikowski u.a.). Und Dostojewski, der große russische Romancier, befeuerte in seiner Zeitschrift „Tagebuch eines Schriftstellers“ einen russischen Nationalismus indem er den Topos der Uneigennützigkeit Russlands im „Dienst an der Menschheit“ in die Welt setzte. Nationalistische Narrative und Klischees, die sich später in Stalins Lügengeschichte Russlands wiederfinden und auch von den gegenwärtigen Machthabern zur Absicherung ihrer autokratischen Herrschaft instrumentalisiert werden.
Ob derlei Dinge heute noch verfangen, und dass eine solche Frage überhaupt noch einmal gestellt werden muss, gehört mit zum Irritierendsten und Beängstigendsten der aktuellen Krise(n). Yaroslaw Timofeev warf in seinem Vortrag „From Dawn to Dusk“ einen aufschlussreichen Blick auf die Entwicklung des russischen Musiklebens zwischen 1992 und 2022. Nach dem weitestgehenden Zusammenbruch der Strukturen am Ende der Sowjetunion erholte sich nach 1992 die klassische Musikszene dank staatlicher Alimentierung, aber auch durch das Wirken eines privates Mäzenatentums. Als Beispiele nannte er Gergievs Mariinsky-Imperium, oder das Musica-Aeterna-Projekt von Currentzis. Endlich erklang in den Konzertsälen bislang Ungehörtes, Vladimir Jurowski dirigierte erstmals Werke von Stockhausen in Russland, das Musikleben blühte. Doch die fetten Jahre waren 2020 vorbei. Timofeev sprach von einem neuerlichen Kollaps. Viele Künstler:innen hätten Russland mittlerweile auf der Suche nach Arbeitsmöglichkeiten, Freiheit und Unabhängigkeit den Rücken gekehrt.
Dass auch bei uns im Westen manches nicht zum Besten steht, beklagte Boris Yoffe. Der in Karlsruhe lebende, bereits 1990 aus Russland emigrierte Komponist und Essayist, berichtete von einer persönlichen Erschütterung. Ein renommiertes deutsches Musikmagazin sei an ihn herangetreten mit der Bitte, aus aktuellem Anlass ein Statement zum Themenkomplex Musik, Politik und Krieg zu verfassen. Die Redaktion lehnte den Beitrag schließlich ab. Begründung: Er passe nicht in unser Heft, weil er nicht von der Ukraine handle. In seinem Essay widmete sich Yoffe dem spannungsvollen Verhältnis zwischen Ästhetik und Ethik, das durch den Krieg gegen die Ukraine sehr an Aktualität gewonnen habe. Kunst sollte das Realitätsbild des Publikums in Frage stellen und auf diese Weise sozial und politisch wirksam werden, so seine Forderung. Stattdessen werde Kunst vielfach als Propagandamittel missbraucht, beileibe nicht nur in der einstigen Sowjetunion, sondern seit jeher auch von den Kirchen, von Herrschern jedweder Couleur, von Mäzenen, Gönnern, vom freien Markt, etc. Ein wirksames Gegenmittel gegen diese Inanspruchnahme sei die künstlerische Veräppelung, oder wie es Yoffe nennt, die „Verarschung“. Ob diese nun die Herrschenden, die Auftraggeber oder die Erwartungshaltung des Publikums trifft, sei nebensächlich. Dass Schostakowitsch ein Meister dieser künstlerischen Verarschung war, stellte Yoffe schon vor zwei Jahren heraus.
Auch Elizabeth Wilson, die Grand Dame der angelsächsischen Schostakowitsch-Forschung, war – wie schon wie vor vier Jahren in Berlin – wieder zu Gast. Schostakowitsch sei wie Lord Byron oder Beethoven Zeuge seiner Epoche. Er war sich bewusst, dass Künstler – wie von Stalin gefordert – keine „Architekten der Seele“ sind. Stalin habe Schostakowitsch für seine Propaganda missbraucht (als Beispiel nannte sie seine erzwungene Teilnahme beim sogenannten Friedensfest in New York 1949). Gleichwohl warnte sie vor Legenden und Halbwahrheiten, die der Komponist selbst gerne zu verbreiten liebte: Wir müssen vorsichtig sein bei den Erzählungen aus dem Leben von Schostakowitsch, mahnte Wilson. Ebenfalls von den britischen Inseln war der Musikwissenschaftler Daniel Elphick angereist. Er berichtete von der außergewöhnlichen Freundschaft zwischen Benjamin Britten und Dmitri Schostakowitsch und von der gegenseitigen künstlerischen Befruchtung zweier bedeutender Komponisten. Eine noch weitere Anreise (nämlich aus den Vereinigten Staaten) hatten David Haas, der sich mit dem Verhältnis Schostakowitschs zur sinfonischen Tradition befasste und Joshua Bedford, der die Funktion des Lachens in Schostakowitschs Opern untersuchte. Mit der landläufigen Vorstellung von Humor hat das allerdings eher wenig zu tun und auch beim Vortrag von Uta Swora über „Humor in den Liedern von Mahler und Schostakowitsch“ war das so. Beide Komponisten hatten in ihrem Leben wenig zu lachen und so kommen einem bei Stücken wie dem Vorwort zur Gesamtausgabe meiner Werke op. 123, den Liedern des Leutnants Lebjadkin, oder den Soldatenliedern aus „Des Knaben Wunderhorn“ eher die Topoi „Lachen unter Tränen“ oder „Humor ist, wenn man trotzdem lacht“ in den Sinn.
Mit der „Groteske als europäische ästhetische Kategorie“ setzte sich Jürgen Stolzenberg in seinem einmal mehr sprachlich brillanten und inhaltlich hochinteressanten Beitrag auseinander. Schostakowitsch stünde hier in der Tradition der Comedia dell Arte, der Callotschen Kupferstiche, von ETA Hoffmanns Erzählungen und – natürlich – der Musik Hector Berlioz‘ und Gustav Mahlers. Die erste Sinfonie (die er selbst als Sinfonie-Groteske bezeichnete) stelle den Beginn des Grotesken in Schostakowitschs Schaffen dar, das sich in vielen nachfolgenden Werken fortsetze und dort insbesondere auch Elemente von Meyerholds biomechanischen Bewegungsästhetik aufgreife und im „Schaubudentheater“ des Finalsatz-Mittelteils seiner vierten Sinfonie weiterentwickelt wird. Explizit groteske Züge finden sich gewiss auch in Schostakowitschs erster Filmmusik zu Grigori Kosinzews und Leonid Traubergs Stummfilm „Das neue Babylon“, mit der sich Michael Stegemann, Lehrstuhlinhaber für historische Musikwissenschaften an der gastgebenden TU Dortmund beschäftigte. In seinem Vortrag arbeitete er insbesondere die zahlreichen Verbindungen zur französischen Musik heraus.
Kaum Berührungspunkte gibt es auf dem ersten Blick zwischen Bela Bartók und Dmitri Schostakowitsch. Gleichwohl fand der in Freiburg im Breisgau lebende freischaffende Komponist und Musikwissenschaftler Tobias Eduard Schick in seiner Analyse des 5. Streichquartetts des Ungarn und des 9. Streichquartetts des Russen Gemeinsamkeiten insbesondere in den harmonischen Strategien beider Komponisten. Diese zeigten sich in der Verfremdung der Dur-Moll-Tonalität und in der damit einhergehenden Schaffung harmonischer Schwebezustände. Um Schwebezustände ganz anderer Art ging es in einem weiteren Vortrag: Groß war die Überraschung in der Musikwelt als Dmitri Schostakowitsch 1958 mit der dreiaktigen Operette „Moskau-Tscherjomuschki“ aufwartete. Kevin Clarke, in Berlin wohnhafter irisch-deutscher Musikwissenschaftler, machte sich auf Spurensuche. Die Frage, ob es die beschwingten Tanz- und Gesangseinlagen in der Anfang der 60-Jahre in die sowjetrussischen Kinos gebrachten Filmfassung tatsächlich mit den perfekt choreografierten Hollywood-Spektakeln eines Busby Berkeley aufnehmen können, war vermutlich eher ironisch gemeint.
Hans-Ulrich Duffek, ehemaliger Sikorski-Verlagsleiter, stellte die Ergebnisse einer überaus verdienstvollen Befragung von sechs aus der ehemaligen Sowjetunion in den Westen emigrierten Komponistinnen und Komponisten (Sofia Gubadulina, Gija Kantscheli, Frangis Ali-Sade, Dmitri Smirnow, Jelena Firsowa und Lera Auerbach) zu deren Verhältnis zu Dmitri Schostakowitsch vor, die aus Platzgründen leider nicht wiedergegeben werden kann. Hier sei jedoch auf den 14. Band unserer Schostakowitsch-Studien hingewiesen, in dem sämtliche in Dortmund gehaltenen Vorträge enthalten sein werden und der bereits vorbereitet wird. Amrei Flechsig und Inna Klause verglichen in ihrem gemeinsamen Vortrag Schostakowitschs Babij-Jar-Komposition (erster Satz der 13. Sinfonie) mit der fast zeitgleich entstandenen und leider viel zu selten gespielten „Jüdischen Chronik“, einer Kollektivkomposition von fünf west- und ostdeutschen Komponisten (Boris Blacher, Karl Amadeus Hartmann, Paul Dessau, Hans Werner Henze und Rudolf Wagner-Régeny) auf Worte von Jens Gerlach. Einen weiteren Werkvergleich, nämlich zwischen dem Violinkonzert von Alban Berg und dem ersten Violinkonzert von Dmitri Schostakowitsch präsentierten ebenfalls in einem gemeinsamen Vortrag der Dortmunder Musikwissenschaftler Alexander Gurdon (der im Übrigen auch für die hervorragende Gesamtorganisation des 21. Musikwissenschaftlichen Symposiums verantwortlich war) sowie die Violinistin Maria Suwelack und die Pianistin Akiko Metzler.
Ihr mit zahlreichen Musikbeispielen garnierter Vortrag war gleichsam ein Vorgeschmack auf die große Schostakowitsch-Musiknacht, einem gut dreistündigen Kammermusikkonzert, mit dem schließlich eine rundum gelungene Veranstaltung zu Ende ging. Schade nur, dass wegen der bereits weit vorangeschrittenen Zeit nur noch wenige Besucher die Gelegenheit fanden, den Klängen der Passacaglia aus Schostakowitschs erstem Violinkonzert zu lauschen. Dieses berührende Plädoyer des großen Russen für Humanität, Frieden und menschlichen Anstand hätte sicherlich vielen Zuhörer:innen gerade in dieser sich zunehmend verdüsternden Zeit gutgetan.
Post Scriptum: Das 22. Musikwissenschaftliche Symposium der Deutschen Schostakowitsch Gesellschaft wird, falls die Mitgliederversammlung das so beschließt, in der zweiten Maihälfte 2025 in Leipzig stattfinden und in ein musikalisches Großereignis eingebunden sein, das Tobias Niederschlag im Rahmen seines Vortrags über die Schostakowitsch Tage in Gohrisch kurz vorstellte. Der Leiter des Konzertbüros des Gewandhausorchesters Leipzig plant anlässlich des 50. Todestages des großen russischen Komponisten ein zweiwöchiges Schostakowitsch-Festival mit der vermutlich umfassendsten Werkschau, die es bisher weltweit gegeben hat. Man darf sich darauf freuen …