Ganz im Zeichen Schostakowitschs standen vom 15. Mai bis 1. Juni die sächsische Metropole Leipzig. Anlässlich des 50. Todestags des Komponisten wurden im Gewandhaus sämtliche Sinfonien, Solokonzerte, Streichquartette und zahlreiche kammer-musikalischem Werke aufgeführt. Im Rahmen des Festivals fand am 19. und 20. Mai auch das 22. Musikwissenschaftliche Symposium der Deutschen Schostakowitsch Gesellschaft statt.
22. Musikwissenschaftliches Symposium in Leipzig
Dem Vergessen entrissen
Von Karlheinz Schiedel (Text und Fotos)
Manche Dinge vergisst du nie. Sie beschäftigen dich ein Leben lang. Lassen dich nicht mehr los. Der Moment, als sich Wang Xilin, der 88-jährige chinesische Komponist und Dissident von seinem Platz im Proberaum der Leipziger Musikhochschule erhebt, seinem Freund Matthias R. Entreß für dessen Vortrag und anschließend mit tiefen Verbeugungen den Zuhörenden für ihr Interesse dankt, gehört ganz sicher dazu. In seinen markanten Gesichtszügen scheinen sich die während der sogenannten Kulturrevolution erlittenen Demütigungen und Misshandlungen eingegraben zu haben. In dem 2023 entstandenen Dokumentarfilm „Man in Black“ zeigte er seinen geschundenen Körper ganz unumwunden.
Wang Xilin, 1936 in Kaifeng/Henan als Sohn eines Beamten und Chiang-Kai-shek-Anhängers geboren, kam 1955 nach Peking, wo er an der Zentralen Militärmusikschule Dirigieren lernte. Zwei Jahre später nahm er an der Musikhochschule in Shanghai Kompositionsunterricht. 1959 hörte er in einem Konzert die 11. Sinfonie von Dmitri Schostakowitsch. Die hier Klang gewordene Trauer, die Anklage und das Mitgefühl mit den geschundenen Menschen berührten ihn existenziell. Seine erste Sinfonie, die (wie bei Schostakowitsch) seine Abschlussarbeit war, hatte denn auch deutliche Anklänge an die Musik seines russischen Kollegen. Nach anfänglichen Erfolgen (1963 erhielt Wang für seine sinfonische Suite „Yunnan Poem“ den höchsten chinesischen Staatspreis) fiel er nach an der Kulturpolitik Chinas geäußerten Kritik in Ungnade und den Häschern Maos in die Hände. 14 Jahre Lagerhaft und Zwangsarbeit folgten, dann wurde der als „Rechtsabweichler“ und „Konterrevolutionär“ Verfemte rehabilitiert. Er hielt sich zunächst mit dem Komponieren von Filmmusik über Wasser, begann, sich mit der europäischen Avantgarde zu beschäftigen. In seiner 3. Sinfonie setzt er den Leiden der während der Kulturrevolution Verfolgten ein Denkmal. Die Musik erscheint, so Entreß, als „eine Ballung von Bitterkeit und Ausdruck schieren Leides“. Sie entsteht – Zufall oder nicht – 1989, im Jahr des Massakers am Tian’anmen Platz, dem Platz des himmlischen Friedens.
Matthias R. Entreß, in Berlin lebender Autor, Journalist und Kurator, der auch für zahlreiche Rundfunksender in Deutschland tätig ist, detektiert eine verborgene Verwandtschaft zwischen Wang und Schostakowitsch und zitiert aus einem Brief von Walentina Nikolajewna Cholopowa, Professorin am Moskauer Konservatorium, die sich 1992 einige Zeit in Peking aufhielt: „Angekommen in China, entdeckte ich hier eine den Augen der Welt verborgene lebendige und herzergreifende Fortsetzung der Tradition unseres großartigen Landsmanns Dmitri Schostakowitsch. Ich rede von einem der führenden Komponisten Chinas, dem erfahrenen Meister Wang Xilin. (…) In der Sinfonie Nr. 3 (gibt er) der Entwicklung der Schostakowitsch-Tradition eine Richtung, die man weder in Moskau noch in St. Petersburg findet.“ Sofia Gubaidulina, die im März 2025 verstorbene Grand Dame der russische Gegenwartsmusik, urteilt: „In Wangs Musik lodert es, brennt es, brüllt es. Sie hat eine unglaubliche Kraft.“ Wang Xilin bringt in seinen Werken Ost und West zusammen und bekennt sich darin mutig und unerschrocken zu den universellen Werten von Freiheit und Menschlichkeit. Seine Musik ist es wert, neu- oder wiederentdeckt zu werden. Unbedingt.
Ob Gleiches auch dem Werk Georgi Swiridows zugesprochen werden kann? Der in Köln lebende Musikwissenschaftler Andrej Goretskii zeigt auf, wie sich der 1915 in der Nähe von Kursk geborene Komponist vom Epigonen zum Antagonisten Dmitri Schostakowitsch entwickelte. Swiridow orientierte sich zunächst stark an der Tonsprache seines Kompositionslehrers, nutzte die typischen „Schostakowitsch-Modi“, gab seinen Werken Satzüberschriften wie Burleske, Elegie oder Passacaglia; Bezeichnungen, wie man sie auch aus Kompositionen Schostakowitschs kennt. Später entfernte er sich von seinem künstlerischen Vorbild und widmete sich vor allem der Vokalmusik. Eingängige Melodien, strukturelle Einfachheit, „Volksnähe“, eine konservativ-orthodoxe Ästhetik kennzeichneten fortan seine Werke. Den westlichen Avantgardismus lehnte er entschieden ab. Und hatte Erfolg damit. Manche seiner Stücke erfreuen sich bis heute in Russland großer Popularität. Auch die bekannte Musikwissenschaftlerin und Pianistin Anastasia Timofeeva, seit 2018 Dozentin an der Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ in Berlin, widmet ihren Vortrag „Pinselstriche zum Portrait eines unglücklichen Menschen“ Georgi Swiridow. In einem fiktiven Interview stellt sie Fragen über das Wesen von Musik, über die Auswahl seiner Textdichter (Puschkin, Blok, Jessenin), das spezifisch Russische in der Kunst und anderes mehr. Die Antworten destilliert sie aus verschiedenen Schriften oder Äußerungen des 1998 gestorbenen Komponisten (gelesenen von unserem Vorstandsmitglied Reimar Westendorf). Manches darin erinnert beklemmend an den rückwärtsgewandten, antimodernistischen, national-konservativen Chauvinismus, der sich seit einiger Zeit nicht nur im Reich Putins breitmacht.
Selbst in den USA, dem „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“, verdüstern bereits tiefschwarze Wolken den einst grenzenlos blauen Himmel von Demokratie und Freiheit. Nicht einmal die renommierten amerikanischen Eliteuniverstäten sind vor präsidentiellen Rundumschlägen sicher. Die Freiheit von Wissenschaft und Forschung scheint bedroht. Doch: Wo bleibt der laute Protest, wo die entschlossene Gegenwehr? Hat die Studentenschaft Trumps polternden, neurechten Kulturkampf nichts entgegenzusetzen? Billigt sie ihn am Ende sogar? Eine Randnotiz im Vortrag des renommierten Musikwissenschaftlers und Professors an der Princeton University Simon Morrison lässt jedenfalls aufhorchen: Es habe ihn überrascht, dass einige seiner Studenten – obwohl sie Schostakowitsch sonst durchaus mögen – ausgerechnet dessen Oper Lady Macbeth von Mzensk missfällt. Sie hielten sie für negativ-nihilistisch, kritisierten „zu viel Gegrapsche“ und einen „gehässigen Spott über die Ungerechtigkeiten, den Schmerz und das Leiden im zaristischen Russland“. Manche äußerten sogar in Teilen Verständnis für die 1936 in dem berüchtigten Prawda-Artikel „Wirrwarr statt Musik“ geäußerte Kritik… Am Beginn seines gut einstündigen Vortrags mit dem Titel „Shostakovich’s Second Marriage“, dessen Inhalt hier nur angedeutet werden kann, dankt der Redner Bernd Feuchtner für seine Arbeit: Er werde in der russischen Musikwissenschaft vermisst, und es sei bedauerlich, dass er am Ende seines Lebens den starken Rückgang des kulturellen Dialogs zwischen Russland und Europa erleben musste. Morrisons hochinteressanten Ausführungen über Leben und Werk Schostakowitschs in den Jahren zwischen 1954 bis 1959, in denen der Komponist nicht nur mit einer Schaffenskrise, sondern auch mit persönlichen Unglücken (Tod seiner Frau Nina, gescheiterte Ehe mit Margarita Andreyevna Kainova) zu kämpfen hatte, werden wir im nächsten Band unserer „Schostakowitsch-Studien“ veröffentlichen.
Gleiches gilt natürlich auch für die Vorträge aller anderen Referentinnen und Referenten, die unser 22. Musikwissenschaftliches Symposium zu einem echten Highlight machten. Der britische Autor und Experte für sowjetrussische Musik Gregor Tassie beleuchtet das freundschaftliche Verhältnis zwischen Schostakowitsch und dem großen Dirigenten Jewgeni Mravinsky, der nicht nur zahlreiche seiner Werke uraufgeführt hat, sondern auch ein „Bruder im Geiste“ für ihn war. Die ukrainische Musikwissenschaftlerin Adelina Yefimenko entreißt den ukrainischen Komponisten Thédore Akymenko dem Vergessen. Der 1876 in Charkiw Geborene reiht sich ein in die lange Tradition kosmopolitischer russischer Kulturschaffender, lebte einige Zeit in Paris, später in Nizza und Prag und versuche, französische und ukrainische Kultur zusammenzubringen. Tobias Schick, Komponist, Autor und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hochschule für Musik in Freiburg im Breisgau unterzieht Solokonzerte von Schostakowitsch, Prokofjew, Kabalewski und Chrenikow einer vergleichenden Analyse, während Jascha Nemtsov, Pianist, Musikwissenschaftler und Professor für Geschichte der jüdischen Musik an der Musikhochschule Weimar, eine Lanze für die reiche osteuropäische Klaviermusiktradition bricht. Mehr als 30 Komponistinnen und Komponisten schufen hier im 20. Jahrhundert Werkzyklen mit 24 Präludien für Klavier (mehrere auch 24 Präludien und Fugen). Werke, die nicht nur ein nachhaltiges Bekenntnis zur Tonalität beinhalten, sondern für die Universalität der Musik stünden. Seinen Vortrag, der schwerpunktmäßig Werke der beiden ukrainischen Komponisten Matvey Gozenpud und Nikolai Silvansky beinhaltete, würzt Nemtsov abschließend mit deutlicher Kritik an der Kunstdoktrin der europäischen Nachkriegsavantgarde (Adorno et al.), die er als Ausdruck neokolonialistischen Denkens empfindet.
Derlei Dinge sind einem „Outsider“ wie Alemdar Karamanow, mit dem sich die Musikwissenschaftlerin und Harfenistin Amrei Flechsig beschäftigt, naturgemäß völlig fremd. Der 1934 auf der Krim geborene Komponist, der von seinem Mitstudenten Alfred Schnittke hochgeschätzt wurde, fiel wegen der Verwendung „westlich-avantgardistischer Techniken“ bei der sowjetischen Kulturbürokratie in Ungnade, zog sich daraufhin in seine Heimat auf der Krim zurück, wo er in ärmlichen Verhältnissen vollkommen isoliert lebte und komponierte (unter anderem insgesamt 24 Sinfonien, viele Werke mit explizit religiösen Inhalten). Erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde der „radikal anachronistische“ Komponist im In- und Ausland wieder stärker wahrgenommen. Als „Schöntöner“ werden bisweilen auch zwei der am häufigsten aufgeführten osteuropäischen Komponisten der Gegenwart abgetan: Arvo Pärt und Gija Kantscheli, mit denen sich der russische Musikwissenschaftler Yaroslav Timofeev auseinandersetzt. Während sich der Este Pärt zunächst mit Zwölftontechnik und Serieller Musik beschäftigte (wofür er von Chrennikow schwer gerügt wurde), entwickelte er zunächst eine Collagetechnik mit Anklängen an Bach und andere Komponisten, eher er sich nach Überwindung einer Schaffenskrise einer überwiegend religiös motivierten Musik mit sphärisch-meditativer Klangumgebung zuwandte. Kantscheli hingegen brachte (wie es ein Kritiker formulierte) Morphium in die georgische Musik. Seine Tonsprache wird gelegentlich als spiritueller Minimalismus bezeichnet, mischt Volkstümliches mit Anklängen aus Barock, sakraler Musik und Spätromantik und zeichnet sich bisweilen durch extreme dynamische Ausbrüche aus.
Einem echten Schwergewicht gilt das Interesse von Jürgen Stolzenberg. Als Darius Milhaud bei einem Russlandbesuch in der 1920er-Jahren vom dortigen Musikpatriarchen Boris Wladimirowitsch Assafjew wissen wollte, wer denn nun das größte Komponistentalent in der Sowjetunion sei, antwortete dieser nicht „Schostakowitsch“, sondern „Gawriil Popow“. Die beiden „Jungstars“ der sowjetrussischen Musik einte zunächst eine enge, später dann wenig gepflegte Künstlerfreundschaft, beide sahen sich selbst kompositorisch auf Augenhöhe, hatten gemeinsame Auftritte, arbeiteten für Film und Theater. Und beide wurden Mitte der 1930er-Jahre von der sowjetrussischen Kulturbürokratie als Volksfeinde und Kollaborateure des Klassenfeindes gebrandmarkt. Zuerst traf es Popow, dessen expressionistische 1. Sinfonie mit ihrer dissonanten Harmonik, extremen Polyphonie und deftigen Rhythmik der Bannstrahl des Aufführungsverbots traf. Wenig später knöpfte man sich Schostakowitsch vor, nachdem seine Oper „Lady Macbeth von Mzensk“ das Missfallen Stalins erregt hatte. Für Popow war die Maßregelung ein Wendepunkt in seinem Leben. Die bisher gezeigte künstlerische Radikalität wich dem Bemühen, sich den Idealen des „Sozialistischen Realismus“ anzupassen. Seine 1943 entstandene 2. Sinfonie mit dem Untertitel „Heimat“ war ein großer Erfolg. 1946 erhielt er dafür den „Stalinpreis“. 1948 ereilte auch ihn, wie Schostakowitsch und andere namhafte Komponisten der Sowjetunion, das Formalismus-Verdikt Schdanows. Der überzeichnete Heroismus seiner späteren Werke könne, so Stolzenberg, nicht mehr ernst genommen werden.
Für Boris Yoffe ist Popow „einer der größten unter den vergessenen Komponisten“. Wie schon bei den Symposien in Berlin (2021) und Dortmund (2023) vermochte er auch sein Publikum in Leipzig zu faszinieren. Thema seines diesmal höchst nachdenklich-philosophischen Vortrags: „Les Fleurs du Mal jenseits des Eisernen Vorhangs: Alexander Lokschin, Nektarios Chargeishvili“. Beiden Komponisten wurde in der Sowjetunion übel mitgespielt. Lokschins Abschlussarbeit im Jahr 1941, ein vokalsinfonisches Poem auf Gedichte von Charles Baudelaire, missfiel der Zensur, zum Examen wurde er nicht zugelassen. Nach dem Krieg konnte er sein Studium doch noch abschließen, wurde 1948 aber erneut vom Konservatorium suspendiert. Er zog sich nach Sibirien zurück, verdiente durch Komponieren von Filmmusik seinen Lebensunterhalt, schrieb elf Sinfonien, die zu seinen Lebzeiten kaum oder gar nicht aufgeführt wurden. Der unbewiesene und mutmaßlich falsche Vorwurf eines Dissidenten, Lokschin sei KGB-Agent und habe ihn verraten, traf den Komponisten schwer und diskreditierte ihn auch in Künstlerkreisen. Im dritten Satz seiner 10. Sinfonie schilderte er den subtilen Zerfall des Körpers nach dem Tod. Nektarios Chargeishvili wiederum wurde die allzu offen geäußerte Kritik am Sowjetregime zum Verhängnis. Er verlor seine Stelle am Moskauer Konservatorium, fand keine Arbeit und verfiel in Depressionen. Er komponierte noch eine Sinfonie (die später von Schnittke und Gubaidulina als Meisterwerk gefeiert wurde). Nachdem diese 1971 nicht aufgeführt wurde, erhängte sich Chargeishvili 34-jährig.
Mit Boris Tischtschenko hat sich Dorothea Redepenning, ausgewiesene Expertin für sowjetische und postsowjetische Musik, einen engen Komponistenfreund Schostakowitschs als Thema ausgewählt, der leider im Westen noch immer kaum bekannt ist. Der 1939 in Leningrad geborene Komponist war von 1962 bis 1965 Aspirant bei Schostakowitsch, sein umfangreiches Oeuvre umfasst unter anderem neun Sinfonien, Filmmusiken, Ballette, sechs Streichquartette und elf Klaviersonaten. Schostakowitsch fertigte 1969 eine Neuinstrumentation seines Cellokonzertes Nr.1 an, die er seinem Schüler zu dessen 30. Geburtstag schenke, Tischtschenko revanchierte sich später mit Orchestrierungen von Schostakowitschs Antiformalistischem Rajok, sowie den Satiren op. 109, den fünf Krokodil-Romanzen op. 121, dem „Vorwort zu meinem Gesamtoeuvre“ op. 123 und den Lebjadkin-Gedichten op. 146, die 2006 zum 100. Geburtstag Schostakowitschs erstmals auf CD erschienen. Tischtschenko habe sich kompositionstechnisch (Verwendung von Zwölftonreihen, Klangclustern, Mikrointervallen) und kontrapunktisch auf der Höhe seiner Zeit befunden. Das Verhältnis zu Schostakowitsch sei von gegenseitiger Wertschätzung geprägt gewesen. Redepenning umschrieb es mit den Begriffen: Imitatio – Aemulatio – Superatio.
Die britische Cellistin, Musikwissenschaftlerin und Autorin Elizabeth Wilson, die sich nicht zuletzt dank ihres preisgekrönten Buches „Shostakovich – A Life Remembered“ weltweit einen guten Ruf als ausgewiesene Schostakowitsch-Expertin erworben hat, zeigt, wie reich das sowjetrussische Repertoire an Violoncello-Kompositionen ist. Allein die Anzahl an Solokonzerten und Sonaten, die dem russischen Ausnahmecellisten Mstislaw Rostropowitsch zugeeignet wurde, ist Legion. Wilson, die selbst zwischen 1964 bis 1971 Cello am Moskauer Konservatorium bei Rostropowitsch studiert hat, greift sich einige der insgesamt 32 Komponistinnen und Komponisten heraus, die für den Maestro geschrieben haben, neben Schostakowitsch (den eine innige Freundschaft mit Rostropowitsch verband) und Prokofieff nannte sie Glière, Miaskowski, Kabalewski, Schaporin, Schebalin, Golubew, Chaikovsky (dessen Konzert Schostakowitsch begeisterte), Knipper, Ustwolskaja, Gubaidulina und – ja – auch Chrennikow. Bei Letzterem konnte sie sich eine dezidiert kritische Bewertung nicht verkneifen: „ein ziemlich armseliges Cellokonzert“.
Hans-Ulrich Duffek, bis 2022 Verlagsdirektor bei Sikorski in Hamburg und als solcher schon von Berufs wegen bestens mit dem russischen Repertoire und seinen Protagonisten vertraut, wählte sich mit Alfred Schnittke einen der bekanntesten und bedeutendsten Komponisten der russischen Moderne heraus. Der Sohn eines jüdischen, aus Frankfurt am Main stammenden Journalisten und einer wolgadeutschen Deutschlehrerin gehört zu den schillerndsten Figuren der zeitgenössischen Musik. Nach anfänglichen Versuchen mit aleatorischen und seriellen Kompositionstechniken eignete er sich eine polystilistische Schreibweise an. Aufführungen bei den Donaueschinger Musiktagen 1966 machte ihn erstmals auch im Westen bekannt und brachten ihn ins Visier der sowjetrussischen Kulturbürokratie. Mit Schostakowitsch fühlte er sich verbunden; beide hatten, so Duffek, zahlreiche Begegnungen. Sein umfangreiches Spätwerk sei ähnlich bedeutsam wie das von Schostakowitsch.
Stefan Keym, Professor für historische Musikwissenschaft und Direktor des Institutes für Musikwissenschaft an der Universität Leipzig referiert über „Durchbruch und Einbruch als dramaturgische Topoi in den Sinfonien Schostakowitschs“. Beide Kategorien sind in der Gattungsgeschichte ein wohlbekanntes, nachgerade obligatorisches Muster. Während der Durchbruch in der Regel durch einen Wechsel des Tongeschlechts von Moll zu Dur gekennzeichnet ist, ist es beim Einbruch genau andersherum. Exemplarisch für Ersteres sind Beethovens Sinfonien 5 und 9 mit ihren „per aspera ad astra“-Schlusssätzen. Einbrüche sind eher für Mahler-Sinfonien typisch, aber auch bei Mozart (Jupiter-Sinfonie) oder Schubert (Unvollendete) zu beobachten. Beim Schlusssatz von Schostakowitschs Fünfter mit seinem unter Druck erzwungenen Jubel und der permanenten Kontinuität des musikalischen Materials könne man – so Keym – von einem „ambivalenten Durchbruch“ reden, der eher erlitten als erreicht wird. Einen Einbruch gibt es bereits im ersten Satz seiner ersten Sinfonie, hier allerdings nicht als Einbruch des Schrecklichen, sondern als Einbruch des Banalen inszeniert – mithin Ausdruck einer gewissen Lust des Komponisten an Überraschungen. Eine völlig neue Bedeutung von Ein- und Durchbruch findet sich im Schlusssatz der 4. Sinfonie. Hier könnte der mit lautem Paukengetöse angekündigte Bläserchoral zwar als Durchbruch (miss-)verstanden werden, doch die schneidenden, harten Dissonanzen vermitteln absolut nicht den Eindruck einer jubelnden Apotheose, sondern münden zusammenbrechend in den ersten tief-pessimistischen Schluss im sinfonischen Schaffen des Komponisten.
Dieses Schaffen lag Kurt Masur, dem ehemaligen Gewandhauskapellmeister, besonders am Herzen. In den Konzertsaisons 1976/77 und 1977/78 brachte der Ausnahmedirigent – der später durch sein Engagement bei der Friedlichen Revolution in Leipzig Herausragendes für die Wiedervereinigung Deutschlands leistete – mit seinem Orchester den ersten vollständigen Zyklus aller 15 Sinfonien Dmitri Schostakowitschs heraus. Der Dortmunder Musikwissenschaftler Alexander Gurdon widmet seinen Vortrag diesem Ereignis, geht auf Besonderheiten von Masurs Interpretationsansätze ein, berichtet über das Gerangel um die von der sowjetischen Zensur verworfenen Textteile der in der 13. Sinfonie verwendeten Jewtuschenko-Gedichte und über den Stand der Nachforschungen über den Verbleib mancher Mitschnitte im DDR-Rundfunkarchiv.
Über den absoluten Höhepunkt unseres 22. Musikwissenschaftlichen Symposiums kann an dieser Stelle nicht zuletzt wegen noch zu klärender lizenzrechtlicher Fragen, leider nur in der gebotenen Kürze berichtet werden. Nur so viel sei gesagt: Das was Olga Digonskaya, die führende Wissenschaftlerin der Dmitri-Schostakowitsch-Stiftung im von ihr geleiteten D.D.Schostakowitsch-Archiv in Moskau entdeckte, hat durchaus das Zeug, für Furore in der Schostakowitsch-Welt zu sorgen. Es handelt sich dabei um bislang unbekannte persönliche Aufzeichnungen Schostakowitschs, der zwar kein Tagebuch im eigentlichen Sinne geführt hat, aber gelegentlich Notizen über Dinge, die ihn berührten, anfertigte. Eine davon findet sich im Titel von Olga Digonskayas bemerkenswerten Vortrag: „Was quält mich? Gewissen, Angst, Scham“. Authentischer, unverstellter Schostakowitsch. Es wäre unendlich wünschenswert mehr davon zu lesen. Diese wichtigen Zeitzeugnisse dürfen keinesfalls dem Vergessen anheimfallen. Unbedingt!