Deutsche Schostakowitsch Gesellschaft e.V.

Dmitri Schostakowitsch, 25. September 1906  ─  9. August 1975


Jüdische Musik in der Sowjetunion – ein Tagungsband über den Komponisten Alexander Weprik

„Hier macht man Musik wie Druckbleistifte“

Von Bernd Feuchtner

Alexander Weprik (1899-1958) wurde sein Judentum erst zur schöpferischen Quelle, dann aber zum Verhängnis, einem Schostakowitsch-Zeitgenossen, der wie dieser in der frühen Sowjetunion mit Begeisterung am Aufbau einer neuen Musikkultur mitarbeitete. Er galt als große Hoffnung der sowjetischen Musik, hatte internationale Erfolge und gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Gesellschaft für jüdische Musik, die aus der jiddischen Folklore neue Energie für die Musik zu ziehen hoffte. Nachdem seine Musik schon beim Göttinger Symposium „Composers in the Gulag under Stalin“ 2010 großen Eindruck gemacht hatte, war ihm am 8. Dezember 2018 in Hannover ein eigenes Symposium gewidmet, dessen Beiträge im hochinteressanten Band 18 der „Jüdische Musik“-Studien erschienen sind.

Da Wepriks Eltern 1909 von Warschau nach Leipzig gezogen waren, lernte der Junge schnell deutsch und profitierte vom dortigen Musikleben, bis die Familie nach Kriegsausbruch Deutschland verlassen musste. Jascha Nemzow zeichnet den Weg des jungen Komponisten, der erst ab 1921 in Moskau in Kontakt mit jüdischen musikalischen Kreisen kam. Seine Familie hatte auf die Bolschewiki große Hoffnungen gesetzt und auch Alexander versuchte mit jüdischer Musik einen neuen Weg in der Musik zu bahnen. Sein „Kaddisch“ op. 6 wurde auch in Berlin gespielt und seine „Lieder und Tänze aus dem Ghetto“ op. 12 fanden den Weg in ein Toscanini-Programm in der Carnegie Hall.

1929 würgte Stalin die frisch aufgeblühte jüdische Sowjetkultur brutal ab. Von 1950 bis 1954 saß Weprik, dessen Gesundheit bereits angeschlagen war, im Gulag. Inna Klause beschreibt die Lebensumstände Wepriks im Lager und seine kulturellen und kompositorischen Aktivitäten – soweit sie möglich waren – mit der nötigen Härte. Man fühlt sich ständig an das Leben der Musiker in Theresienstadt erinnert, obwohl die Lage im Gulag noch wesentlich härter war. Zwar entstanden auch danach noch einige große Orchesterwerke, doch starb der Komponist bereits 1958 im Alter von 59 Jahren. Igor Voroboyov untersucht an Wepriks im Gulag geschriebener Kantate „Das Volk als Held“ die musikalische Charakteristik des späten Weprik.

Wolfgang Mende zeichnet Wepriks publizistische Aktivitäten nach. Christoph Flamm, Igor Voroboyov und der Dirigent Christoph-Mathias Mueller, der auch Weprik-Werke eingespielt hat, analysieren gründlich einige Stücke dieses interessanten Komponisten. Besonders interessant aber sind die Briefe, die Alexander Weprik von seiner Deutschland-Reise 1927 nach Moskau geschickt hatte. Er sollte Informationen sammeln über das Ausbildungswesen und seinerseits über die Reform der Musikinstitutionen in der Sowjetunion informieren, doch besonders interessierte ihn natürlich die Entwicklung der Musik – auch eigene Werke konnte er vorstellen.

Er traf Schönberg, und Hindemith lief ihm sogar mehrfach über den Weg. „Die Musik hier ist abweisend und erschreckend“, schrieb er an seine Chefin Nadeshda Brjussowa. „Sie ist so schlecht, dass ich, als ich sie zuerst hörte, nicht nur schockiert war, sondern dachte, ich hätte den Verstand verloren. Jetzt aber beginne ich zu verstehen, wo das Problem liegt. Für uns ist Musik in erster Linie eine Offenbarung; wir sind es gewohnt, darin eine Form der Wahrnehmung und des Verstehens der Welt zu sehen. Das ist hier völlig anders. Hier wird Musik gemacht. Sonst nichts. Ende. Musik wird gesehen aus dem Blickwinkel der Nutzung von Tonhöhe und Rhythmus, man sieht sie als Lösung konstruktiver Probleme. Deshalb gibt es hier den lebendigsten Anfang – das Melos – überhaupt nicht. Dies ist der wichtigste Unterschied des modernen Deutschlands zu dem, was wir tun und schätzen.“

Aus Berlin schrieb er am 30. Juni 1927: „Plötzlich verstand ich, dass die Leute hier gar keine Musik machen. Wie Sie ausführten: „Für Beethoven entfaltete sich das künstlerische Schaffen in Verbindung mit dem Leben. Er musste nicht nur musikalische Kompositionen schaffen, sondern darin auch etwas aus seinem inneren Leben ausdrücken.“ Hier hingegen wird Musik geschrieben, ja nicht einmal geschrieben, sondern gemacht. Niemand gießt einen Inhalt hinein und keiner sucht welchen darin. Sie wird genauso gemacht, wie man Tische oder Druckbleistifte macht. Jedenfalls ist sie gut gemacht; alles klingt gut und ist stark zusammengesetzt.“

Der Versuch der jüdischen Komponisten in der Sowjetunion, eine neue Kunstmusik aus dem Geist der reichen jüdischen Folklore zu schaffen, stieß im Westen auf Unverständnis. Und Weprik verstand die Probleme der Westler nicht: „Schönberg denkt so: Schon bei Wagner ist die Zersetzung der Tonalität zu beobachten (alles was jenseits des Dur-Moll-Aspekts liegt, betrachten sie als Zersetzung der Tonalität. Von der Existenz anderer Modi haben sie keine Ahnung [Jaworskys größtes Verbrechen war, dass er seine Theorie der modalen Rhythmen niemals verständlich formuliert hat]. Wenn etwas nicht ins Dur-Moll-Schema passt, dann ist es atonal). Die erste Annahme von Schönberg kann man so formulieren: heute schreitet die Musik von der Zersetzung der Tonalität weiter zur Schaffung atonaler Musik. Diese Annahme ist völlig falsch, finster und gefährlich; sie sind aber blind und können keine anderen Tonalitäten erkennen außer Dur und Moll. Und aus dieser falschen Annahme ziehen sie völlig falsche Schlüsse. (...) Seine Worte sagen alles: ,Ich gehe sogar noch weiter (er meinte Bach), ich gehe zurück zu den Niederländern‘.“

Boleslaw Jaworsky (1877-1942) war auch einer der Mentoren von Schostakowitsch. Nadeschda Brjussowa, die Empfängerin der Briefe, war eine Schülerin Jaworskys, des Urhebers jener Theorie der Modi. Jaworskys Theorie war tatsächlich außerhalb der UdSSR während der 1920er und 1930er Jahre so gut wie unbekannt, dennoch wurden einige Artikel darüber auf Deutsch veröffentlicht. Siehe S. Belajew-Exemplarsky: B. Jaworsky – Die Wirkung des Tonkomplexes bei melodischer Gestaltung, Leipzig 1926, Sonderdruck aus dem Archiv für die gesamte Psychologie, S. 57, Ausgabe 3/4; B. Jaworsky: Die Struktur des melodischen Geschehens, Leipzig 1934, Sonderdruck aus dem Archiv für die gesamte Psychologie, S. 92; Erwin Felber: Moskau. Musikpsychologie, Musikblätter des Anbruch 1927, Nr. 4, S. 185.

Damals sah Alexander Weprik sich noch auf dem Weg der Sieger: „Nein, Deutschland hat seinen Schwung verloren. Mit Wagners Tod begann der Niedergang des Landes. Dieser Sonnenuntergang ist manchmal blendend schön (Strauss), aber es geht abwärts, abwärts, abwärts. Die Sonne geht im Osten auf!“


  • Zwischen Gewandhaus und Gulag: Alexander Weprik und sein Orchesterwerk. Klause, Inna / Mueller, Christoph-Mathias (Herausgeber). Jüdische Musik Band 18, Harrassowitz Wiesbaden 2020, XIV, 344 Seiten, 120 Abb., 2 Tabellen, 68 €
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