Mehr Verbindendes als Trennendes
Kann ein Musikfestival, das alljährlich das Werk eines bedeutenden Komponisten exponiert und künstlerische oder persönliche Querverbindungen zu Kolleginnen und Kollegen unterschiedlicher Epochen und Stilrichtungen nachspürt, den Charme seiner Gründungsidee nicht nur konservieren, sondern stetig weiterentwickeln? Und damit die mittlerweile recht hohen Erwartungen seiner Besucher nicht nur erfüllen, sondern fast schon regelmäßig übertreffen? Antwort: Aber sicher – jedenfalls dann, wenn es so intelligente und innovative Programmplaner, sowie ein derart hochmotiviertes Helferteam hat wie die Schostakowitsch Tage Gohrisch. „Schostakowitsch und die polnische Moderne“ war das Motto des diesjährigen Festivals, das vom 22. bis 24. Juni wieder gut und gerne 3000 Musikliebhaber in den idyllischen Kurort in der Sächsischen Schweiz pilgern ließ. Ein Motto übrigens, das ganz wunderbar zum Thema der letzten beiden musikwissenschaftlichen Symposien der Deutschen Schostakowitsch Gesellschaft passte. Auch hierbei wurde das ambivalent-schwierige Verhältnis Schostakowitsch – musikalischen Avantgarde in den Fokus gerückt.
Wobei das Festival eher konventionell begann. Zumindest auf den ersten Blick. Beim Sonderkonzert der Sächsischen Staatskapelle in der Dresdner Semperoper am Donnerstagabend standen mit der „Festlichen Ouvertüre“, dem ersten Klavierkonzert und der Fünften Sinfonie Kompositionen Schostakowitschs auf dem Programm, die sich längst ihren festen Platz im Konzertbetrieb erobert haben. Der besondere Reiz lag in der Zusammenstellung der Werke – und in den Assoziationsketten, die sie anregten. Während die „Festliche Ouvertüre“ – angeblich anlässlich der Feierlichkeiten zum 37. Jahrestag der Sozialistischen Oktoberrevolution in nur zwei Tagen aufs Notenpapier geworfen – das westliche Verdikt, Schostakowitsch sei der „sowjetrussische Staatskomponist“ schlechthin gewesen, zu bestätigen schien, zeigte das 1933 entstandene Konzert für Klavier, Trompete und Streichorchester den jugendlich-frechen Revoluzzer, der sich einen Kehricht um Musiktraditionen schert und eine diebische Freude daran hat, Zuhörer und Dirigenten mit vermeintlich falschen Tönen zu traktieren (großartig: Denis Matsuev am bemitleidenswerten Steinway-Flügel und – atemberaubend intonationssicher – Helmut Fuchs an der Trompete). Überwältigend dann das Hörerlebnis nach der Pause, als aus musikalischem Spaß existenzbedrohender Ernst wurde: Der Staatskapelle gelang unter Yuri Temirkanov eine Interpretation der Fünften – jener mutigen Gratwanderung zwischen (scheinbarer) Anpassung und (künstlerischer) Selbstbehauptung –, die buchstäblich unter die Haut ging. Auf dem Platz vor der Dresdner Semperoper flatterten derweil aus bekannt schlechtem Grund Banner mit ebenfalls zutiefst humanistischen Botschaften im auffrischenden Nordwind: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ und „Türen auf – Herzen auf – Augen auf“. Einmal mehr offenbarte sich die beklemmende Aktualität der Musik des großen Russen.
Dass sich die Programmidee tags darauf beim offiziellen Eröffnungskonzert in Gohrisch gleichsam kammermusikalisch spiegelte, ist bei einem klugen und weitsichtigen Programmgestalter wie Tobias Niederschlag, der das Festival seit seiner Gründung im Jahr 2010 künstlerisch leitet, kein Zufall. Erneut erklang mit dem Concertino für zwei Klaviere op. 94 zunächst ein eher leichtgewichtiges Stück, das Schostakowitsch Mitte der 50er-Jahre am Beginn einer von ihm selbst als quälend empfundenen Schaffenskrise komponierte. Die beiden blutjungen russischen Klaviervirtuosen Alexandra Dovgan und Alexander Malofeev interpretierten das effektvolle Stück mit staunenswerter Leichtigkeit. Und wie schon am Vorabend übernahm anschließend Denis Matsuev den Part des musikalischen Possenspielers. Zusammen mit Alexander Malofeev brillierte der aktuelle Capell-Virtuos der Sächsischen Staatskapelle mit Witold Lutosławskis Bravourstück „Paganini Variations“ für zwei Klaviere. Phänomenal! Für existenzielle Tiefe war nach der Pause wieder Schostakowitsch zuständig. Das 1944 entstandene Klaviertrio Nr. 2 e-Moll ist sowohl Gedenkkomposition für Schostakowitschs kurz zuvor verstorbenen engen Freund und Förderer Iwan Sollertinski, als auch bekenntnishafte Trauermusik für die von der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft ermordeten europäischen Juden. Denis Matsuev, Tibor Gyenge (Violine) und Norbert Anger (Cello) interpretierten Schostakowitschs Anklage gegen Antisemitismus und unmenschliche Barbarei mit höchstmöglicher Eindringlichkeit. Auch hier erschütterte die Aktualität der Musik zutiefst.
Trotz ständiger staatlicher Repression und Überwachung verfolgte Schostakowitsch die Entwicklung der Musik im Westen mit wachem Interesse und schätzte viele seiner Komponistenkollegen sehr. So fertigte er zu Studienzwecken Klavierbearbeitungen bedeutender Kompositionen an. Dem GrauSchumacher Duo (Andreas Grau und Götz Schumacher) kommt das Verdienst zu, diese musikalischen Schätze gehoben zu haben. In Gohrisch erklangen nun jeweils in Deutscher Erstaufführung Schostakowitschs Bearbeitungen von Arthur Honeggers Symphonie Nr. 3 „Liturgique“, Igor Strawinskys „Psalmensinfonie“ und das Adagio aus Gustav Mahlers unvollendeter Zehnter. Wahrhaft große Musik, großartig interpretiert.
Ganz im Zeichen des Festivalmottos „Schostakowitsch und die polnische Moderne“ stand der Kammerabend mit dem Lutosławski Quartett. Krzysztof Pendereckis experimentierfreudig-avantgardistisches „Quartetto per archi no. 1“ und Dmitri Schostakowitschs traditioneller Klang- und Formgebung verpflichtetes zehntes Streichquartett wirkten dabei wie musikalische Antipoden – während das Streichquartett Witold Lutosławskis, vor allem aber Krzysztof Meyers Streichquartett Nr. 15 eine Art Brückenfunktion zwischen den beiden vermeintlich unvereinbaren musikalischen Welten zukam. Meyers Streichquartett – eine Auftragskomposition der Internationalen Schostakowitsch Tage – erlebte in Gohrisch übrigens seine vielumjubelte Uraufführung.
Musikgeschichtliche Entwicklungen verlaufen nicht zwangsläufig linear und Gegensätzlichkeiten sind keineswegs unüberwindbar. Dies war bereits beim Chorkonzert mit dem jungen Vocalconsort Leipzig unter Franziska Kuba deutlich geworden. Pendereckis „Missa Brevis“ und Meyers „Te Deum“ für gemischten Chor a cappella sind eingängig-expressiv und tief in der kirchenmusikalischen Tradition verwurzelt. Beim Abschlusskonzert – gleichzeitig Premierenkonzert für das neugegründete Ensemble „kapelle 21“, zu dem sich junge Musiker*innen der Sächsischen Staatskapelle Dresden zusammengeschlossen haben, um sich der Pflege zeitgenössischer Musik zu widmen – zeigte sich schließlich, wie sehr die einst erbittert geführten Auseinandersetzungen von politisch-ideologischen Divergenzen geprägt waren und den allgegenwärtigen Ost-West-Konflikt auf die musikästhetische Ebene transformierten. Die hier unter dem Dirigat von Petr Popelka mustergültig aufgeführten Werke von Krzysztof Penderecki, Witold Lutosławski, Krzystof Meyer und Dmitri Schostakowitsch offenbarten jedenfalls mehr Verbindendes als Trennendes. Einfach nur verdammt gute Musik war da zu hören, vom Gohrischer Publikum mit Beifallsstürmen honoriert.
Nicht unterschlagen werden soll natürlich einer der Höhepunkte des diesjährigen Festivals: Die Uraufführung eines erst vor Kurzem im Moskauer Staatsarchiv wiederentdeckten Impromptus für Viola und Klavier. Schostakowitsch hatte es Anfang der 30er-Jahre dem Bratschisten Alexander Rywkin geschenkt, die Moskauer Schostakowitsch-Forscherin Olga Digonskaya sichtete es schließlich im Nachlass des 1972 verstorbenen Bratschisten Wadim Borisowski. Nils Mönkemeyer (Viola) und Rostislav Krimer präsentierten das kurze, charmant-intime Stück erstmals der Öffentlichkeit. Unter den Zuhörern war übrigens auch die Witwe Schostakowitschs, Irina Antonowna. Für alle Beteiligten war die anschließende Wiedergabe von Schostakowitschs letztem Werk, der erst wenige Tage vor seinem Tod am 9. August 1975 vollendeten Sonate für Viola und Klavier op. 147 ein emotionales Wechselbad – und ein musikalisches Erlebnis von geradezu erschütternder Tiefe.
Am Ende der 9. Internationalen Schostakowitsch Tage Gohrisch stand die Erkenntnis, einmal mehr ein überaus interessantes und bewegendes Festival auf allerhöchsten musikalischen Niveau erlebt zu haben. Und die Vorfreunde auf das zehnjährige Jubiläum im kommenden Jahr. Ein paar Einzelheiten dazu wurden bereits bekannt: So wird die zehnte Auflage der Schostakowitsch Tage Gohrisch vier statt drei Tage dauern und Olga Digonskaya stellte bereits die Uraufführung eines weiteren, wiederentdeckten Schostakowitsch-Stückes in Aussicht. Auch das Programm des Vorabendkonzerts in Dresden steht bereits fest. Mit Schostakowitschs fulminanter 11. Sinfonie wird dabei genau jenes Werk aufgeführt mit dem der Komponist seine oben erwähnte Schaffenskrise überwand. Zufall? Gewiss nicht bei Tobias Niederschlag...
Karlheinz Schiedel
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