Deutsche Schostakowitsch Gesellschaft e.V.

Dmitri Schostakowitsch, 25. September 1906  ─  9. August 1975

Eine kleine Galerie mit fotografischen Eindrücken vom XVII. Internationalen Musiksymposium der Deutschen Schostakowitsch Gesellschaft. (Fotos: Ronald Freytag)   


Ein hochintensives und erfolgreiches Symposium (Forts.)

Das Thema des XVII. Musikwissenschaftlichen Symposiums - Schostakowitsch und die Avantgarde der 20er Jahre - war gut gewählt. Es umfasst nicht nur eine der vielleicht spannendsten und eruptivsten Schaffensperioden des großen russischen Komponisten, sondern hilft auch zu verdeutlichen, wie sehr sich die Rezeption seines Œu­v­res in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten gewandelt hat. Aus dem eher traditionalistischen, rückwärtsgewandten „sowjetischen Staatskomponisten“ wurde längst der weltweit anerkannte und respektierte Tonsetzer, der in der Musik des 20. Jahrhunderts ein wichtiges, unüberhörbares Wort mitgeredet hat. Dass Dmitri Schostakowitsch gleich zu Beginn seines Schaffens einen zwar eigenen Weg ging, dabei aber durchaus Teil der europäischen Avantgarde der 20er Jahre war, stellte Friedbert Streller in seinem Referat klar. Überhaupt sei Russland an der Entwicklung der europäischen Avantgarde wesentlich beteiligt gewesen, sei es in der Bildenden Kunst, der Literatur, dem Film oder Schauspiel, oder eben in der Musik. Nach der Oktoberrevolution sei in der jungen Sowjetunion das Interesse an avantgardistischen Kunstströmungen - auch westlicher Provenienz - groß gewesen.  

Über Schostakowitschs Faszination - beispielsweise für die Oper Wozzeck von Alban Berg - berichtete Gerd Rienäcker in seinem Vortag über „Die Heterogenität der Avantgarde“. In den Werken des jungen Komponisten machte er eine große Vielstimmigkeit aus, ein Mit- und Gegeneinander musikalischer Stile - aber auch den Versuch, Auseinanderdriftendes zusammenzufügen. Die Inkohärenz der Welt und die Fragmentierung der Zeit spiegelten sich symptomatisch in der Oper „Die Nase“ des jungen Dmitri Schostakowitsch wieder, bilanzierte der russische Musikwissenschaftler Levon Hakobian  in seinem Referat. Zur Überraschung der Zuhörer hatte Hakobian zwei bislang unveröffentlichte Fragmente aus der Oper „Die Nase“ mitgebracht, die erst kürzlich im Schostakowitsch-Archiv in Moskau entdeckt wurden. Zwar wurden die beiden von Schostakowitsch nicht verwendeten Fragmente nur als Midi-Files zu Gehör gebracht, doch war unüberhörbar, dass es sich dabei um „echten Schostakowitsch“  handelt. Hakobian hofft, dass die beiden Fragmente schon bald aufgeführt und auf Tonträger erhältlich sein werden.

 Mit dem Scherzo - Schostakowitschs Lieblingsform, die ihn das ganze Leben begleitete - beschäftigte sich der italienische Dirigent und gefeierte Schostakowitsch-Interpret Oleg Caetani. Im  und durch das Scherzo entwickelte er seine musikalische Sprache. Stand das Scherzo op. 1 noch ganz unter dem  Einfluss Rimski-Korsakows, sei das Scherzo op. 7 schon echter Schostakowitsch. Im berüchtigten Scherzo des Streichoktetts op. 11 sei schließlich die Intention schockieren zu wollen spürbar. Mit der Ironie im Frühwerk von Schostakowitsch beschäftigte sich Bernd Feuchtner. Anhand des ersten Klavierkonzertes dokumentierte der Schostakowitsch-Experte, der erst unlängst mit einem neuen Buch über Rudolf Barschai von sich Reden machte, die Doppelbödig- und Doppeldeutigkeit in Schostakowitschs Komponieren. Auch hierin zeige sich Schostakowitschs ausgeprägter Individualismus, der ihn früher oder später in Konflikt mit den Herrschenden bringen musste. Ein ausgeprägter Individualismus, der gewiss auch der 1. Klaviersonate op. 12 innewohnt, mit der sich der russische Musikwissenschaftler Wladimir Gurewitsch auseinandersetze. In diesem Klavierstück - eines der technisch anspruchsvollsten, das je geschrieben wurde - schlägt dem Hörer die Befreiung vom akademischen Muff förmlich entgegen. Hier trifft unbändige Naturgewalt auf lauten Protest - Avantgardismus Schostakowitscher Prägung, ein Stück, das keinerlei Stilparallelen mit anderen Komponisten zu kennen scheint - und leider viel zu selten gespielt wird (vielleicht weil es kaum Solisten gibt, denen es gelingt, wirklich alle Noten zu treffen?).

In unmittelbarer zeitlicher und stilistischer Nachbarschaft mit der 1. Klaviersonate stehen die Aphorismen op. 13, die Gottfried Eberle zu Beginn des Abendkonzertes interpretierte, mit dem der erste Symposiumstag einen krönenden Abschluss fand. Im Rahmen dieses Konzertes stellte der Pianist und Multiinstrumentalist  Jonas Hauer das Theremin vor, ein frühes elektronisches  Instrument, das Anfang der zwanziger Jahre von dem russischen Physiker Lev Sergejewitsch Termen erfunden wurde und ohne direkten Kontakt zwischen Spieler und Instrument gespielt wird. Schostakowitsch verwendete es in seinen Filmmusiken zu „Odna“ und „Freundinnen“. Ein Schülerensemble der Schostakowitsch-Musikschule Berlin-Lichtenberg interpretierte gekonnt und mit hör- und sichtbarer Freude an der anspruchsvollen Musik zwei Sätze aus der  Kammersinfonie op. 73a (Instrumentation des 3. Streichquartetts durch Rudolf Barschai). Und mit dem berühmten Walzer Nr. 2 aus der Jazzsuite Nr. 2 - interpretiert von allen Beteiligten - ging der gelungene Konzertabend stimmungsvoll zu Ende.

Mit den am Vorabend gehörten Aphorismen op. 13 beschäftigte sich Gottfried Eberle zu Beginn des zweiten Symposiumtags. Diese einzigartige Komposition verortete Eberle im Kontext der europäischen und russischen Avantgarde - eine verwegene, durchaus traditionsverbundene, oftmals parodistische Kompilation von zehn zumeist recht kurzen Klavierstücken, die bisweilen an den Spätstil Anton Weberns erinnert und in der sich bereits beklemmend viel Todeserfahrung eines erst 21-jährigen Komponisten manifestiert. An die existenzielle Bedrohung, die Schostakowitsch im Umfeld des Prawda-Artikels „Chaos und Musik“ erdulden musste, und die ihre künstlerische Umformung und Verarbeitung beispielsweise in der 4. Symphonie gefunden hat, erinnerte Gerd Müller in seinem engagierten Vortrag „Die Moderne - ein Missverständnis“.  Eher in die Zeit des zweiten Scherbengerichtes (ZK-Beschluss vom 10. Februar 1948, etc.) führte der Vortrag der russischen Musikwissenschaftlerin  Olga Dombrowskaya über die weitgehend unbekannte Beteiligung Schostakowitschs an dem Anfang der 50er Jahre gedrehten sowjetrussischen Spielfilm „Rimski-Korsakow“. Ein vollkommen ahistorisches Machwerk, in dem der greise russische Spätromantiker einen ebenso fiktiven wie dandyhaften Schüler zurechtweist, der irgendwelche „kleinbürgerlich-dekadenten Brutismen“ auf ein bemitleidenswertes Piano einhämmert. Diese „Kakophonien“ stammen natürlich aus der Feder Dmitri Schostakowitschs, der sich offenbar gezwungen sah, mit dieser „Filmmusik“ seine eigene Verballhornung zu betreiben. Welch groteske Perfidität! Einmal mehr enthüllt hier der monströse Totalitarismus stalinistischer Prägung seine menschenverachtende Fratze. Einen interessanten Vergleich der ersten Symphonien Dmitri Schostakowitsch und des hierzulande noch wenig bekannten ukrainischen Nationalkomponisten Borys Mykolajowytsch Ljatoschynskyj bot die ukrainische Musikwissenschaftlerin Adelina Yefimenko. Henny van der Groep beschäftigte sich in ihrem auch multimedial überaus ansprechenden Vortrag mit den von Dmitri Schostakowitsch schon in seinem Frühwerk - man denke nur an die Suite für zwei Klaviere op. 6 - häufig verwendeten Glockenmotiven und stellte musikhistorische Bezüge zur russisch-orthodoxen Kirchenmusik oder zu Mussorgski her.

Mehr die Gegenwart und die Zukunft hatten Ronald Freytag und Lorenz Pöllmann im Blick. Die beiden Dozenten an der HMKW Berlin zeigten in ihrem fulminanten Vortrag „Schostakowitsch goes pop“, dass sich mittlerweile auch viele Vertreter der Pop-Kultur mit dem Komponisten Dmitri Schostakowitsch künstlerisch auseinandersetzen und Motive oder Motivfetzen in eigene Musikstücke integrieren. Peter Fox ist ein bekanntes Beispiel (Motive aus der 7. Sinfonie), Freytag und Pöllmann stellten aber noch weitere Samples anderer Interpreten vor. Und präsentierten die Idee eines Projektes, mit dem junge Menschen und Musiker zur  Auseinandersetzung mit dem Werk Dmitri Schostakowitschs animiert werden sollen. Ein Projekt, das zwar bei der HMKW Berlin angesiedelt ist, das aber auch die Deutsche Schostakowitsch Gesellschaft noch beschäftigen wird. Wie sagte Krzysztof Meyer zu Beginn des Symposiums doch so treffend: „Das Interesse an Werk und Persönlichkeit Dmitri Schostakowitschs wird immer größer“. Fürwahr!

   Karlheinz Schiedel      


Weitere Impressionen von unserem Symposium in einer Bilder-Galerie mit Fotos von Henny van der Groep und Egbert Baars.. Es handelt sich dabei nur um eine kleine Auswahl; den gesamten Zyklus mit höher aufgelösten Fotos finden Sie auf ihrer - übrigens wunderschönen - Schostakowitsch-Seite:

 

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